Dr. Ludwig Ziehen

Dr. Ludwig Ziehen wurde1871 in Frankfurt am Main geboren. Er entstammte einer Familie des Bildungsbürgertums, absolvierte das humanistische Gymnasium, studierte alte Sprachen und wuchs gewissermaßen mit Griechisch und Latein auf, promovierte nach dem Studium der klassischen Philologie und Geschichte mit einer Untersuchung über „Leges Graecorum Sacrae“, antiken Inschriften zu religiösen Gesetzen der Griechen.
Nach einer Zeit als Erzieher zweier Söhne des Kaisers in Plön amtierte er seit 1911 als Direktor am Domgymnasium in Merseburg. 1916 erreichte ihn eine Anfrage des Kurators der Ritterakademie, von Kriegsheim, ob er das Direktorenamt an der Ritterakademie übernehmen wolle. Ziehen kam 1916 mit Ehefrau und drei Söhnen nach Brandenburg. Als klassischer Philologe von Rang, der wissenschaftlich forschte und publizierte, aber auch als kenntnisreicher Pädagoge prägte Ziehen bis zu seiner Pensionierung 1934 das Domgymnasium ganz maßgeblich.
Ziehen war von Beginn an erklärter Gegner der Weimarer Demokratie. Als ein Statement in diesem Sinn ist seine Mitarbeit am Bismarck-Film von 1925-26 zu werten. Ziehen lieferte die Manuskriptvorlage. Zielsetzung dieses unter der Schirmherrschaft Hindenburgs stehenden Filmprojekts war,der deutschen Jugend nach dem verlorenen Krieg eine hochpatriotische Haltung zu vermitteln. Seiner monarchistischen Einstellung gab er etwa dadurch Ausdruck, dass er vorschriftswidrig ein Bild des Kaisers in der Aula hängen und nur zu offiziellen Anlässen verdecken ließ.
In Brandenburg begründete Ziehen bereits 1923 einen politischen Club („sozialnationale Vereinigung“), der sich entschieden gegen die demokratische Republik zu Wort meldete und die, wie er selbst in einem Disziplinarverfahren einräumte, grundsätzlich die selben Ziele wie die NSDAP vertrat. Spätestens seit dem Wahlerfolg der NSDAP vom September 1930 trat der Direktor der Ritterakademie in politischen Versammlungen als Wegbereiter der Hitlerpartei hervor. Aus diesem Grund kam es 1931 zum Konflikt mit der Aufsichtsbehörde, dem Provinzialschulkollegium in Berlin, das dem politisierenden Oberstudiendirektor einen Verweis erteilte, diesen jedoch nach Widerspruch Ziehens wieder aufhob. Dies dürfte auf die geänderten politischen Verhältnisse nach dem „Preußenschlag“ zurückzuführen sein. Offiziell schloss sich Ziehen der NSDAP zum 1. November 1932 an.
Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933, die angesichts nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen nicht mehr unter vollständig demokratischen Verhältnissen erfolgten, brachten auch in der Stadt Brandenburg einen Sieg für die nationale Koalition von NSDAP und „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“. Über eine anschließende Siegesparade durch die Stadt berichtete der Brandenburger Anzeiger: „Vom Neustädtischen Markt marschierten Stahlhelm, S. A. und S. S. nach dem Dom zum Burghof, wo sie erneut Aufstellung nahmen. Oberstudiendirektor Professor Dr. Ziehen unterbrach für kurze Zeit die Reifeprüfung an der Ritterakademie und beantwortete die Heilrufe der S. A., S. S. und des Stahlhelms mit einer kurzen Ansprache, in der er die Bedeutung des Tages der Befreiung Brandenburgs durch die nationale Bewegung gedachte und allen dankte, die zur Herbeiführung dieses geschichtlichen Ereignisses beitrugen. Zugleich gab er der zuversichtlichen Hoffnung Ausdruck, dass von nun an die stolzen nationalen Fahnen niemals mehr vom Brandenburger Rathause verschwinden würden. Nach einem dreifachen Sieg-Heil kehrten die S. A. und S. S. zum Neustädtischen Markt zurück, wo der Umzug mit kräftigen Heilrufen auf den Reichskanzler Adolf Hitler beendet wurde.“ Erwartungsgemäß siegte diese nationale Koalition auch bei den eine Woche später erfolgenden Kommunalwahlen. Ziehen war Spitzenkandidat der NSDAP und wurde auf der konstituierenden Sitzung vom 2. April 1933 zum Stadtverordnetenvorsteher der Stadt Brandenburg gewählt. Bei der Sitzung führte Ziehen das Wort. Auf Antrag der NSDAP wurde Hindenburg und Hitler das Ehrenbürgerrecht der Stadt Brandenburg verliehen. Spontan erhob sich daraufhin, so wird berichtet, die Versammlung und sang das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. Angehörige der SPD-Fraktion, die sich beim Absingen des Horst-Wessel-Lieds nicht erhoben hatten, wurden von SA-Ordnern aus dem Saal entfernt und vor den Türen Opfer von Gewalthandlungen.
Als Direktor der Ritterakademie hatte Ziehen qua Amt dem alten Domkapitel angehört. Er gehörte ebenfalls dem Anfang Januar 1933 eingesetzten Kuratorium des Domstifts an. Als Mitglied des Gemeindekirchenrates (GKR) übernahm er vorübergehend die Geschäftsführung dieses Gremiums. Seine Schilderung der Gemeindeverhältnisse im Brief an den Regierungspräsidenten dürfte weithin zutreffen: „Schwere Konflikte, wie sie der Kirchenkampf in den meisten Gemeinden, auch in den Gemeinden der Stadt Brandenburg,hervorrief, gab es am Dom nicht.“ Die Domkirchengemeinde, die sich im Sommer 1933 fast geschlossen zu den Deutschen Christen (DC) bekannt hatte, lag im Windschatten des Kirchenkampfes. Sie hatte sich 1933 selbst gleichgeschaltet. Allerdings war sie nicht ganz frei von Spannungen, besonders in ihrem Verhältnis zu auswärtigen Pfarrern der Bekennenden Kirche. Das wird deutlich anlässlich der GKR-Sitzung vom 25. Januar 1935.Sie fand am Mühlendamm Nr. 12 statt, in der Privatwohnung Ludwig Ziehens. Zu Gast war Prädikant Schrem, der vom Konsistorium mit der Verwaltung der Pfarrstelle beauftragt war. In der Gemeinde, so berichtet der junge Theologe, sei er freundlich aufgenommen worden. Eigenartig seien indessen seine Erfahrungen gewesen, die er bei Besuchen von Amtsbrüdern in der Stadt gemacht habe. Pfarrer Tecklenburg, so berichtet Schrem, habe ihm erklärt, „der Dom sei noch rückständig; es sei Zeit, dass er aufgeklärt werde; auch die Frauenhilfe müsse anders werden.“ Bruno Tecklenburg amtierte an der St. Gotthardtkirche und war führender BK-Pfarrer in der Stadt Brandenburg. Ziehen dankte dem Prädikanten für seinen Bericht „und weist die Angriffe des Herrn Pfarrers Tecklenburg (unter Zustimmung der übrigen Herren) scharf zurück; hier auf dem Dom habe man höchst erfreulicher Weise bisher den kirchlichen Frieden gewahrt und sei unbeschadet der verschiedenen Richtungen, die es natürlich auch hier gebe, einig geblieben; wenn man von Seiten städtischer Kreise diesen Frieden stören wolle, müsse man sich aufs schärfste zur Wehr setzen. Diese Erklärung findet die einhellige Zustimmung der anderen Herren des Kirchenrats.“Auch mit dem Superintendenturverwalter Pfarrer Johannes Volkmann, der offenbar der BK zuneigte, ergaben sich Spannungen, die während der GKR-Sitzung vom 3. Mai 1935 in einem Eklat gipfelten. Vorausgegangen war ein Vortragsabend der DC am Dom. Eingeladen war der Merseburger Dompfarrer Walter Ziehen, ein Sohn Ludwig Ziehens, der einen Vortrag über „Nationalsozialismus und Christentum“ ankündigte. Ohne die Zustimmung des inzwischen vertretungsweise am Dom amtierenden Pfarrers Lenz (Schmerzke) einzuholen, war dieser Vortrag als „gottesdienstähnliche Feierstunde“ in die Domkrypta gelegt worden. Volkmann hatte gegen eine solche, wie es im Protokoll heißt, „Preisgabe des Gottesdienstraumes“ für eine DC-Veranstaltung protestiert. Als auf der GKR-Sitzung dieser Vorgang zur Sprache kommen sollte, verlas Dr. Ziehen Teile eines mit Pfarrer Volkmann geführten kontroversen Briefwechsels und gab, nach scharfer Ablehnung der Maßnahmen Volkmanns, seinen Rücktritt vom Ältestenamt bekannt und verließ demonstrativ die Sitzung. Das war zweifellos ein Eklat. Die Handlungsweise entsprach durchaus dem Stil Ziehens, der – wie sich an vielen Beispielen zeigen lässt - Konflikte nicht scheute. Die Versammlung unter Leitung von Pfarrer Lenz blieb mit Betroffenheit zurück und versuchte die Wogen zu glätten. Man einigte sich in der Nachbesprechung darauf, dass Vieles hinsichtlich der kritisierten Veranstaltung in der Dom-Krypta auf einer Kette von Missverständnissen beruhte, man bedauerte und sprach von einem „Versehen“. Zwei Kirchenälteste wurden losgeschickt, um Direktor Ziehen umzustimmen.Vergeblich. Er überreichte ihnen nun seinen Rücktritt auch noch schriftlich.

Ziehen
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Folgende Personen wurden Domherren des neuen Domkapitels: Als Domdechant und damit Vorsitzender wurde Adolf von Trotha berufen. Geboren 1868 in Koblenz, machte vonTrotha eine Karriere in der Kaiserlichen Marine. Im Januar 1916 zum Chef des Stabes der Hochseeflotte ernannt, nahm er in führender Position an der legendären Skagerrakschlacht teil. Gegen Ende des Krieges war er Chef des Marinekabinetts. Während des Kapp-Putsches gegen die Weimarer Demokratie im März 1920 erklärte von Trotha Bereitschaft zur Unterstützung für die Putschisten. Nach der Niederschlagung des Putsches musste er aus dem Marineamt ausscheiden. Von Trotha war entschiedener Gegner der Weimarer Republik. 1933 wurde er durch die Nationalsozialisten sofort in den Preußischen Staatsrat berufen. Am 30. Mai 1936, dem 20. Jahrestag der Skagerrakschlacht, weihte er gemeinsam mit Hitler das Marine-Ehrenmal Laboe bei Kiel ein. In seiner Eigenschaft als Dechant des Domkapitels formulierte von Trotha im Dezember 1939 ein persönliches Credo, worin er sich als gläubiger Christ bekannte, nicht ohne dabei hervorzuheben: „In diesem Glauben steht mir Jesus Christus auch völlig außerhalb des jüdischen Volkes. Er selbst hat ja den Juden die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, wie diese ihn auch von sich gestoßen haben.“
Zum residierenden Domherren und damit geschäftsführend wurde vom Kirchenministerium Propst Konrad Jenetzky berufen. Jenetzky war seit 1933 als ein führender DC-Theologe in Schlesien hervorgetreten. Er amtierte von Oktober 1933 bis Dezember 1936 als Propst von Liegnitz, musste diese Position jedoch aus kirchenpolitischen Gründen aufgeben und befand sich seither im Wartestand.
Weiteres Mitglied des neuen Domkapitels wurde der prominente Berliner DC-Führer Friedrich Peter. Er amtierte von 1933 bis 1935 als radikaler DC-Bischof in Magdeburg und büßte diese Position aus kirchenpolitischen Gründen ein. 1936 versuchte das Reichskirchenministerium, Bischof Peter als 1. Domprediger am Berliner Dom unterzubringen, aber das Domkirchenkollegium verweigerte diesem extremen DC-Theologen faktisch die Aufnahme seiner Pfarrtätigkeit. Auch Bruno Adler, wurde Mitglied des neuen Domkapitels. Schließlich erhielt mit Karl Scholze der Brandenburger Kreisleiter der NSDAP die Berufung zum Domherren. Scholze war gebürtiger Brandenburger, hatte sich am 1. Mai 1930 der Partei angeschlossen und war schon vor 1933 als Parteifunktionär hauptberuflich für die NSDAP tätig. Seit Juli 1937 vertrat er den Wahlkreis Frankfurt/Oder als Reichstagsabgeordneter im nationalsozialistischen Pseudo-Parlament. Schließlich der ehemalige Direktor der Ritterakademie Ziehen, der als einziger Domherr jetzt auf Lebenszeit berufen wurde. Tatsächlich aber liefen jetzt viele Fäden bei Ludwig Ziehen zusammen: Er war und blieb der eigentliche, kenntnisreiche und sehr erfahrene Manager des Dombezirks. Domdechant von Trotha verstarb am 11. Oktober 1940 in Berlin. Aufgrund seiner Nähe zur NSDAP und zu Hitler persönlich, der ihn verehrte, erhielt er einen Staatsakt in Anwesenheit Hitlers. Domherr Ziehen, der als Repräsentant des Doms zugegen war, schrieb einen Nachruf auf von Trotha, der im Völkischen Beobachter erschien. Zur Verabschiedung Direktor Ziehens gab es im März 1934 eine Feier in der Domschulaula: Unter Anwesenheit von Oberbürgermeister Dr. Kreutz und NSDAP-Kreisleiter Scholze würdigten Kurator Görtzke sowie Oberstudienrat Dr. Glöckner das langjährige Wirken Ziehens. „Seine Aufklärungsarbeit“, so hob Dr. Glöckner hervor, habe einen guten Teil dazu beigetragen, das „rote Brandenburg“ für den nationalen Gedanken zu gewinnen. Auch in den schlimmsten Zeiten –gemeint war die Weimarer Epoche– habe der Direktor dafür gesorgt, dass der Geist altpreußischer Zucht und Pflichterfüllung gepflegt worden sei. Ziehen selbst betonte in seiner Abschiedsrede, in der Ritterakademie müsse eine sowohl „ritterliche“ wie auch„vaterländische“ Gesinnung gepflegt werden.

„Der Geist, der heute im Dritten Reich walten solle, und für den der Führer das Wort geprägt habe: ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz’, stimme überein mit dem alten preußischen Geist der Pflichterfüllung und Hingabe an den Staat. [...] Der Redner schloss mit einem Sieg-Heil auf Vaterland und Führer. Sodann erklangen die ersten Strophen des Deutschland-Liedes und des Horst-Wessel-Liedes.“
Durchsieht man die Schulaktivitäten bis zur Aufhebung der Schule im Jahr 1937, so stellt sich der Eindruck ein, dass es sich immer weniger um eine christliche, sondern vielmehr um eine nationalsozialistische Schule gehandelt habe. Dies mag eine Schulfeier vom 30. Januar 1937 aus Anlass des vierten Jahrestags der Hitlerschen Machtübernahme vermitteln: Die Feier in der Aula begann mit dem Gemeinschaftsempfang der Rede des Propagandaministers Goebbels; anschließend sang der Schulchor den Choral: Bis hierher hat mich Gott gebracht; Zögling Witte spielte sodann ein Sonett von Schumann; anschließend trug Zögling Zimmermann das Gedicht „Durch Taten“von Reichsjugendführer Baldur von Schirach vor. Ein Sprechchor rezitierte „Die Toten“ (ebenfalls von Schirach). Nun sang der Chor das„Heimatgebet“ von Hugo Kaun. Zuletzt trug Zögling Frh. von dem Bussche „Dem Führer“vor, ein Lobgedicht auf Hitler, verfasst von dem Nazi-Dichter Heinrich Anacker. Mit dem gemeinsamen Gesang des Deutschlands- und Horst-Wessel-Liedes endete die Schulfeier.
Am 17. November 1938, eine Woche nach der Pogromnacht, hielt DC-Pfarrer Friedrich Peter, der dem neuen Domkapitel angehörte, anlässlich der Beisetzung des Pariser Botschaftsgesandten Ernst vom Rath in Düsseldorf eine Totenrede: „Wir fragen heute an diesem offenen Grab die Völker der Erde, wir fragen die Christen in der Welt: Was wollt Ihr tun gegen den Geist jenes Volkes, von dem Christus sagt, ‚sein Gott ist ein Mörder von Anfang an gewesen und ist nicht bestanden in der Wahrheit’. Wir Deutschen haben gelernt, dass man sich große Gedanken und ein reines Herz von Gott erbitten soll. Wie steht es aber um Juda, dessen Gott ein Mörder ist von Anfang an? Wir fragen die Völker der Welt in unserem Schmerz und Stolz: Wie wollt Ihr Euch in Zukunft zu diesem Volk stellen, und wir erwarten Antwort.“
Es war Ziehens Verdienst für die Neubesetzung der Dompfarrstelle zu sorgen. Im Oktober 1941 teilte er Domherr und Oberleutnant Scholze, dem im Kriegseinsatz stehenden Kreisleiter der NSDAP, Details über den avisierten neuen Domprediger Rudolf Biedermann mit: dieser sei ihm vom Konsistorium empfohlen worden; laut Konsistorialrat Winter sei Biedermann Parteigenosse, stehe auf dem Boden des Evangeliums und suche es „mit dem Wesen des heutigen nationalsozialistischen Staates“ zu verbinden. Kirchenpolitisch sei er nicht gebunden, tendiere aber mehr den DC zu. Ein eingeschworener BK-Mann, so teilte Ziehen seinem Parteigenossen Scholze mit, käme für uns nicht in Betracht. Aber auch ein „ausgesprochener DC“ passe nicht hierher. Das würde zu neuem Zwiespalt führen.Ziehen fuhr eigens nach Köslin, um sich das Wirken des Hilfspfarrers Dr. Biedermann an Ort und Stelle anzusehen und kam mit sehr günstigen Eindrücken zurück. Nach schriftlicher Zustimmung der Domherren, von denen die Mehrheit durch Kriegseinsatz weit verstreut war, ging die Sache rasch voran. In einem Rundschreiben an die Domherren berichtete Ziehen: er habe den Eindruck gewonnen, der neue Pfarrer sei von „aufrichtiger Begeisterung für wahrhaften Nationalsozialismus“ erfüllt; inzwischen habe die Befragung durch die Gemeinde stattgefunden, es seien keine Einwände gegen Biedermann erhoben worden. In der vom Domkapitel ausgestellten Berufungsurkunde wurde der neue Pfarrer nicht allein auf die Bibel und Bekenntnisse der evangelischen Kirche, sondern auch zur „Treue zum Führer des deutschen Volkes“ und Gehorsam gegen die kirchliche Obrigkeit verpflichtet. Der intensive Briefwechsel der Domherren während der Kriegszeit erlaubt tiefe Einblicke in deren Haltungen und Gedankenwelt. Drei von sechs Domherren waren Theologen, und zwar bekannte DC-Führungsfiguren, die sich durch ihre radikale kirchenpolitische Haltung im Kirchenkampf andernorts untragbar gemacht hatten. Nahezu alle Mitglieder des Domkapitels gehörten der Hitlerpartei an, einige wie Adler, Scholze und Hans-Wichard von Rochow-Stülpe, der neue Kurator der Ritterakademie,schon lange vor 1933.
Bezeichnend für die Haltung von Prof. Dr. Ziehen ist auch ein Schreiben vom 15.3.1936 an den Oberbürgermeister Dr. Kreutz, in dem er ausführt:

„Eine höchst unerfreuliche Erscheinung der Brandenburger Stadtbevölkerung, die freilich nicht neu ist, aber immer gerade wieder im Schulwesen hervortritt, ist der große Prozentsatz körperlich und geistig minderwertiger Elemente; was im Schulwesen in der relativ hohen Zahl von Hilfsschulen seinen Ausdruck findet. Es müssen hier schon in weiter zurückliegenden Zeiten Verhältnisse wirksam gewesen sein, die die Zusammensetzung der Brandenburger Einwohnerschaft ungünstig beeinflussten.“

Ziehen war später noch in der Schulverwaltung tätig, entfremdete sich aber wegen der ablehnenden Haltung der NSDAP zu kirchlichen Schulen von der Partei. Er setzte sich für einen Studienrat, der gegen das Pogrom vom 9.11.1938 protestiert hatte und deswegen beurlaubt worden war, ein und erreichte dessen Weiterbeschäftigung. Auch Karl Erbs, der Stadtbaurat, erklärte später, er habe seine Tätigkeit nach 1933 nur fortsetzen können, da Ziehen ihn unterstützt habe.
Gegen Ende des Krieges tritt der bis dahin entbotene Hitlergruß in den Briefen von Ziehen spürbar zurück. Man grüßt nun, von Ausnahmen abgesehen, nur noch „herzlich“oder„in alter Verbundenheit“. In einigen Briefen, insbesondere bei Ziehen, lässt sich zwischen den Zeilen eine Distanznahme und gelegentlich sogar kritische Haltung zum NS-Regime herauslesen. In einem Schreiben an Bischof Peter vom Juni 1943 räsoniert Ziehen kritisch: die heutige Zeit sei keineswegs so herrlich, wie die Propaganda glauben machen wolle.„Dieselbe Prahlerei und Grosssprecherei, die 1941/42 herrschte und dann durch die Ereignisse bei Stalingrad u. im Kaukasus und in Afrika eine so schreckliche Widerlegung fand, macht sich immer noch breit.“ Bei den Menschen im sogenannten „Volk“ verpuffe diese Propaganda wirkungslos. Eine öffentliche Kritik, so beklagt er indessen, sei ja nicht möglich. Wäre sie vorhanden, dann würde Vieles, was heute in der Heimat und in den besetzten Gebieten“ geschehe, sofort unterbleiben. In einem Brief an „Parteigenosse Scholze“ vom Februar 1944, worin Ziehen dessen Kirchenaustritt bedauert und ihm namens des Domkapitels für seine Mitarbeit dankt, kritisiert er wiederum die gegenwärtige Propaganda. Angesichts der Heeresberichte, die immer nur von schweren Verlusten des Gegners sprächen, machten sich die Leute jetzt viele eigene Gedanken: „Sie rücken natürlich meist nicht damit heraus, vor allem nicht in Gegenwart von politischen Leitern oder gar in Versammlungen, weil sie sich fürchten. (...) Es ließe sich noch viel darüber sagen, aber es ist ein gefährliches Thema, und ich wollte nur Ihnen als einem alten Parteifreund und Mitkämpfer einmal meine Bedenken (...) aussprechen.“
Am 1. Januar 1945 beklagte Ziehen den rapide zurückgegangenen Domkirchenbesuch. Im letzten Gottesdienst vor Weihnachten 1944 seien nur fünf Zuhörer erschienen. Es sei dies ein für das kirchliche Leben ruinöser Zustand, der zugleich das Ansehen des Domes empfindlich schädige. Schwierig wurden die Dinge auch deshalb, weil maßgebliche Persönlichkeiten am Dom wie der sehr dominante Manager des Dombezirks Ludwig Ziehen den Dom frühzeitig und entschieden für eine Synthese von Christentum, dem Geist des alten monarchischen Preußentums und nationalsozialistischer Weltanschauung öffneten.
Nach dem Krieg stand Ziehen für seine Unterstützung der Nationalsozialisten vor Gericht. Er wurde zunächst zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch aufgehoben und die Strafe auf neun Monate reduziert, die mit der Untersuchungshaft abgegolten waren. Die zunächst erhobenen Vorwürfe, er sei für die Ausschreitungen gegenüber Stadtverordneten in der Sitzung der SVV im April 33 und für die Verfolgung des später im KZ ermordeten SPD-Mannes Schernikau verantwortlich, wurden als unbegründet fallengelassen. Ziehen habe die Ausschreitungen weder veranlasst, noch habe er sie überhaupt verhindern können. Auf die Verhaftung von Schernikau habe er keinen Einfluss genommen. Er habe nur in einem Artikel den Namen von Schernikau als einem SPD-Mitglied erwähnt. Dies sei aber ohnehin bekannt gewesen.

Lit.: Manfred Gailus, „Fatale politische Braunfärbungen im Dombezirk“ Der Dom Brandenburg in schwieriger Zeit, Rede im Dom zu Brandenburg 7.7.2015